Der Text der Rede von Javad Mojabi bei der Uwe-Johnson Preisverleihung, September 2018

Uwe-Johnson

Ein paar kurze Bemerkungen zur neueren Literatur des Iran

Zuerst möchte ich mich bei der Jury des Uwe-Johnson-Preises für die Einladung bedanken und Herrn Ralf Rothmann herzlich gratulieren.

Ich freue mich, dass mir die Möglichkeit gegeben wird, vor Ihnen kurz über die neuere iranische Literatur zu sprechen.

In den letzten hundert Jahren hat die Literatur des Iran zwei Perioden erlebt. Die erste ist mittlerweile 60 Jahre alt und dauert noch an. Die zweite Periode hat vor etwa 40 Jahren begonnen und ist noch in ihrem Findungsprozess.

Der Beginn der neuen literarischen und künstlerischen Bewegungen im Iran ist nicht getrennt vom literarischen und künstlerischen Geschehen in vielen anderen Ländern zu betrachten – insbesondere nicht von den kulturellen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Westen.

Aus der nationalistischen Bewegung, die bei uns zwischen den beiden Weltkriegen wie überall anzutreffen war, gingen im Iran zwei scheinbar paradoxe Aspekte des kulturellen Schaffens hervor. Auf der einen Seite besannen sich die iranischen Schriftsteller und Künster ihren kulturellen Wurzeln, um sich ihrer historischen Identität zu vergewissern.

Andererseits beobachteten sie die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der progressiven westlichen Staaten genauer, um mit ihnen Schritt zu halten.

Die Intensivierung der internationalen Verbindungen und die Übersetzung wissenschaftlicher und literarischer Werke aus Europa haben zunehmend zu gegenseitigem Kennenlernen geführt.

Der iranische Staat unterstützte diese beiden elementaren Bestrebungen – d. h. die Entdeckung des eigenen kulturellen Erbes und das zeitgleiche Bemühen um eine weitreichende Modernisierung der eigenen Gesellschaft.

Die iranischen Schriftsteller, allen voran die beiden ‌großen Erneuerer Mohammad Ali Dschamalzade und Sadegh Hedayat, schrieben die ersten an internationalen Vorbildern orientierten iranischen Erzählungen und Romane. Einige von ihnen stellten zwischen 1921 und 1981 wichtige Themen wie Rechtstaatlichkeit, Gerechtigkeit und das städtische Leben in den Fokus ihrer Beobachtung. Schriftsteller und Journalisten machten besonders auf fehlende soziale Gerechtigkeit und Rechtstaatlichkeit sowie auf die Notwendigkeit der Abschaffung der Klassendiskriminierung aufmerksam. Die waren die Hauptziele der konstitutionellen Revolution, die zwischen 1905 und 1911 stattfand.

Mit dem Aufbruch der nationalistischen und linksorientierten politischen Parteien im Iran nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Bekämpfung der Klassengesellschaft, der Kolonialisierung und des Despotismus, aber auch die Hoffnung auf eine befreiende Revolution zu dominierenden Themen der politisch- und sozialkritischen Werke.

Demokratische Bestrebungen in Richtung einer tiefergreifenden Entwicklung der Gesellschaft fanden im Gegensatz zur Idee einer  raschen, utopischen Revolution weniger Beachtung. In einer Zeit ohne Gewerkschaften und politische Parteien übernimmt der Künstler im Kampf gegen die politische Macht und für die Freihheit die Rolle des “engagierten” Intellektuellen; er fühlt sich verpflichtet, die unterdrückten Massen aufzuklären.

Der Künstler macht diese Verpflichtung zur Grundlage seines Denkens und der Entstehung seines Werkes. Das Volk erwartet von ihm nichts anderes als die Erfüllung dieser künstlerischen Mission.

Die Übersetzung außeriranischer literarischer Werke, die die Gesellschaft zum zentralen Thema hatten, sowie die zunehmende Bekanntschaft mit den Büchern anderer freiheitlich denkender Künstler gehörten für die Generationen vor uns zu den Quellen der Inspiration.

Die Schriftsteller dieser modernen, revolutionären Strömung haben Romane und Erzählungen geschaffen, in denen für die Liebe zum Volk und zum Vaterland und gegen Rückständigkeit, Despotismus und die als eroberungslustig wahrgenommenen Fremden Partei ergriffen wurde.

Sie sehnten sich nach einer rechtstaatlichen, fortschrittlichen, wohlhabenden und mit anderen Kulturen gleichberechtigt interagierenden Gesellschaft.

Diese Künstler wollen gestützt auf ihre eigene Literatur und Kultur das kulturelle Erbe der Menschheit auf der ganzen Welt kennenlernen, streben Modernität und Freiheit an und wollen die gelebte Modernität in den westlichen Gesellschaften entdecken.

Ihre geistigen Quellen lagen in einer ausgewogenen Mischung aus der Literatur des alten Irans und der zeitgenössischen Kunst, Literatur und den Geisteswissenschaften des Westens. Das war keine Folgsamkeit gegenüber dem Westen, sondern das Aufbauen auf dem menschlichen Erbe mehrerer Jahrhunderte, das sich nun im Westen befand.

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Die Generation, die seit den 19980er Jahren aktiv ist, hat die Revolution und den Irak-Iran-Krieg erlebt. Aufgrund der leicht zugänglichen digitalen Kommunikationsmittel und der Informationsexplosion seit den 90ern beruft sie sich auf das globale Erbe der Menschenheit, ohne sich stärker auf das eigene Kulturerbe zurück zu besinnen.

Die Globalisierung und die Vereinheitlichung, die im Bereich Kultur unkomplizierter und schneller erfolgt, verleiht den Werken der iranischen Schriftsteller seit den 80ern globale Züge

Dadurch weisen diese Künstler Ähnlichkeiten mit jeder beliebigen Person an jedem beliebigen Ort der Welt auf.

Reichlich vorhandene Übersetzungen philosophischer Texte, wissenschaftlicher Essays und kulturtheoretischer Schriften, die Aufhebung der ideologischen und politischen Grenzen, die Verbreitung der modernen Kommunikationsmittel, allen voran das Internet, und die Flucht vor kultureller Isolation haben iranische Künstler und Schriftsteller zur kulturellen Annäherung an die Außenwelt getrieben.

Die Wirklichkeit der Kultur bewegt sich damit in der entgegengesetzten Richtung zur Politik.

Natürlich haben während der letzten vierzig Jahre auch die älteren Generationen, die das Erbe der Konstitutionellen Revolution hüten und als gesellschaftszentrierte Utopisten gelten, parallel zu den jüngeren, die nach Angleichung und Harmonie mit dem Rest der Welt streben, ihre Werke geschaffen und veröffentlicht.

Die Koexistenz solch unterschiedlicher Ansichten und Verfahren im kulturellen Bereich hat zur Stärkung der Toleranz innerhalb der Gesellschaft beigetragen.

Im Großteil der Inhalte von literarischen Werken in den vergangenen vierzig Jahren finden sich folgende Eigenschaften:

Erstens: Ein Bewusstsein für den Tod. Diese Einstellung hat zwar in unserer Gesellschaft ihre Wurzeln in der Mystik – nämlich in dem Sinne, dass der Tod der Beginn des ewigen Lebens ist. Jedoch haben die Schriftsteller in den letzten vierzig Jahren den Tod mit einer starken Wertschätzung für das kurze, irdische Leben verwoben. Denn während dieser Epoche war der Tod in der iranischen Gesellschaft aufgrund einer Revolution und eines Krieges sehr präsent und für viele zum Greifen nah.

Zweitens: Das Vermeiden von Ideologien bis hin zur Politikverdrossenheit. Von den politischen und gesellschaftlichen Motiven der älteren Werke, deren Schöpfer dem Kollektiven mehr Raum einräumten als dem Individuum, ist kaum etwas geblieben. Die jüngeren Autoren legen mehr Wert auf das „Ich“ und die Selbsteinkehr.

Drittens: Die starke Frauenbewegung der letzten Jahrzente brachte Hunderte Künstlerinnen und Schriftstellerinnen hervor, die quantitativ mit der Zeit vor den 80erJahren nicht zu vergleichen sind. Sie thematisieren in ihren Werken ihre individuellen und gesellschaftlichen Forderungen mit Klarheit, Bestimmtheit und ohne Übertreibung.

Viertens: Vermeidung des Provinzialismus. Die jungen Schriftsteller fühlen sich der geografischen Grenzen entbunden und beschreiben eine weltbürgerliche Atmosphäre, welche nicht mehr die Identität eines bestimmten Territoriums wiederspiegelt.

Zum Schluss möchte ich hervorheben, dass die junge Generation im Iran dabei ist, die Modernität und die heutige Welt besser wahrzunehmen als die älteren Generationen. Die Zeichen dieser individuellen Bemühung manifestieren sich auch in öffentlichen Aktivitäten, wie zum Beispiel bei Wahlen oder Protesten. Ihre Forderung nach Toleranz, die gegen Gewalt agiert, ihr verhaltener Humor, der gegen Dogmatismus und Fanatismus eingesetzt wird, ihre Geduld, ihr Ehrgeiz und ihr Selbstbewusstsein, die Abkehr von Emotionalität und die Hinwendung zu einer neugefundenen Rationalität: All dies charakterisiert die Globalisierung einer neuen Generation. Allerdings sind diese Eigenschaften in den literarischen Werken noch nicht so präsent, wie es ihnen gebührt.

Entscheidend ist aber: Diese Generation möchte eine Kultur, die mit den Kulturen der ganzen Welt in einen lebendigen und aktiven Dialog treten kann. Diese Generation möchte lernen und lehren.

Meinen kurzen Vortrag möchte ich mit einem Zitat von Uwe Johnson schließen, das genauso von einem iranischen Autor dieser jungen Generation stammen könnte: „Ein Roman ist keine revolutionäre Waffe. Er bringt nicht unmittelbare politische Wirkung hervor. Die taktischen Aussichten sind ärmlich, strategische kaum nachweisbar.“

Javad Mojabi

Interview with Sonia Seddighi und Bahman Nirumand

Javad Mojabi

Plötzlich wieder

Deutsch von Sonia Seddighi und Bahman Nirumand

Am Nachmittag desselben Tages erreichten wir eine Karawanserei am Stadtrand von Nain. Für mich hatte der Tag erst am Nachmittag begonnen, denn ich hatte von der letzten Nacht an, bis unsere Gefolgschaft vor der Karawanserai anhielt, durchgeschlafen. Erst hier wachte ich auf.

“Du hast im Schlaf geredet”, sagte Nasanin.

“Was habe ich gesagt?

“Was redet man schon im Schlaf. Du hast einfach daher geredet.

Wir betraten die Karawanserei. Es war eines von den schönen verlassenen Gebäude, an denen ich auf widungsvollen Wegen durch die Wüste schon oft vorbei gekommen war. Mir tut es leid, dass in einer anderen Zeit, die nicht mehr blüht und lebt, so viel Geschmack, soviel Meisterschaft nutzlos brach liegt: Ziegel Arbeiten im sinne berauben den geometrischen Formen, bunte Stuckarbeiten an der Decke, Estraden, Wendeltreppen, hohe Steinbänke, Maulbeerbäume, Planen, verschlossene, zerfallene Pavillons und Kammern.

“Ich bin durstig”, sagte Nasanin.

“Du hast immer Durst.”

“Nicht immer. Ich bin durstig und hungrig.

Im Hof war niemand zu sehen. Der Staub eines merkwürdigen Lärms lag in der Luft. Der Lärm war nicht zu hören, aber man spürte ihn, so wie diese Hitze, bei der die Sonne nicht im Blickfeld schien, aber Schweiß und Durst erzeugte. Der Lärm wurde lauter, entfernte sich, legte sich und stieg wieder auf. Er entfernte sich, ohne zu verschwinden und aufzuhören, vermischte sich mit der Luft, zerbrach gelegentlich durch einen nicht enden wollenden Windhauch. Man hörte das Wiehern der Pferde, das Geschrei und Seufzen der Kamele und Kameltreiber, die sich mit dem Flüstern des Himmels und dem dumpfen Widerhall der Erde vermischten. Vielleicht wurde die Zeit der Blüte der Karawanserei in die Zeit ihres Zerfalls gerufen.

Die Kammern, Pavillons, Hallen waren zerfallen, sie hatten sich in nutzlose Ruinen verwandelt, Ruinen mit verschlossenen, gebrochenen, verstaubten Türen. Die Türen waren verriegelt oder mit zwei Brettern kreuzförmig zugenagelt. Sie waren undurchdringbar: Die Verwesung eines lebendigen Wesens, dessen Knochen im Wüstenwind lagen.

Als wir zweimal die Estraden weit umkreist hatten, merkten wir – Nasanin sah es und gab mir ein Zeichen – dass bei einem der Kammern auf der Schattenseite die Tür halb offen stand. Offenbar hatten wir es, als wir beim ersten Mal daran vorbei gekommen waren, wegen des kräftig grauen Schattens nicht gemerkt, daß sie geöffnet war.

Meine Frau ging drei Stufen hoch und blieb stehen. Ich erreichte die Türschwelle, hustete laut und rief: Gott segne euch! Keine Stimme meldete sich. Ich drückte gegen die beiden Türflügeln. Sie standen nun sperrangelweit offen. Das Sonnenlicht, das durch eine Öffnung an der Decke hinein fiel, zeigt, daß niemand in der Kammer war. Auf dem Fußboden lag ein alter Teppich, an der Wand hing ein Krug. Ein gebündelter Tischtuch schien einiges von dem, was wir begehrten, aufbewahrt zu haben.

Wir traten ein, setzen und, löschen unseren Durst mit dem Wasser aus dem schwitzenden Krug Dann öffneten wir vorsichtig das Tischtuch. Niemand kam, um uns vom Essen abzuhalten. Wir hätten, wenn kein Gastgeber zugegen sein sollte, dafür bezahlen können. Wir warteten noch eine Weile, aber es kam niemand. So legten wir uns hin, um die Müdigkeit aus unseren Körpern zu vertreiben. Das schwere Atmen von Nazanin, die den ganzen Weg lang nicht geschlafen hatte, klang rhythmisch. Ich merkte, daß sie tief schläft. Ein Schatten ging an der Öffnung der Decke vorbei. Die Lichtsäule wurde für einen Augenblick unterbrochen. Vielleicht war es ein Vogel oder ein Tier.

Du warst satt und voll, konntest nicht einschlafen, wälzen sich hin und her, erblicktest an der östlichen Wand der Kammer die Tür, die im blaugrauen Schatten verschwunden war. Ein Flügel der Tür war herabgestürzt. Vielleicht war der Besitzer der Kammer durch diese Tür in die Nebenkammer gegangen.

Ich erhob mich, obwohl ich ungern die einsame Stille verließ. Ich öffnete die Tür. Das war unvernünftig und sinnlos oder für mich nicht nützlich. Ich sah eine Kammer, leer und dunkel und eine halb geöffnete Tür, die zu der nächsten Kammer führte. Die Kammern waren menschenleer und dienten als Tummelplatz für Mäuse, Schlangen, violette, rote und graue Würmer. Der plötzliche und geräuschvolle Flug der verängstigten Tauben jagte mir jedesmal Schrecken ein. In dem immer schwächer werdenden Schein, der durch die Öffnung in die Kammer fiel, sah ich hier und dort verfaulte Lebensmittel, zerstückelte Stricke, von Ameisen zernagte Stöcke, zerfressene Packsattel und Bastsäcke. In der Wandnische und auf dem Fußboden standen Getränke, ein Wassersack und eine Leuchte, die nicht brannte.

Ich hatte schon die fünfte oder sechste Kammer passiert als eine große Tür mich in einen kleinen Garten führte, in dem es blatt- und fruchtlose, verdorrte Maulbeerbäume und in der Mitte eine prächtige Platane mit schön gewachsenen Zweigen und frischen Blättern gab. Am Saum eines kleinen Baches, der vergeblich floß, sah man kleine Blumen, die nicht zu dieser Jahreszeit gehörten. Einige Schritte entfernt befand sich etwas ähnliches wie ein Sumpf mit Stechmücken in der Luft und von der Sonne verbrannten Schilfrohren, die den Blick in die Weite versperrten. Am Fuß der Platane gab es eine Quelle, in der ich das Spiegelbild von Früchten erblickte, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Man könnte sie mit großen, reifen Ananassen vergleichen, die Schale gelblich, rau, faltig, uneben. Sie lagen zitternd und matt auf dem quellenden Wasser.

Diese merkwürdigen Früchte der Platane riefen eine erheiternde Erinnerung in mir wach. Ich setzte mich auf die Erde, um sie genauer zu betrachten. Plötzlich sah ich abgeschnittene Köpfe, die lautlos lachten und erstaunt über ihr eigenes Lachen in der Tiefe der Quelle zitterten. Ich erhob mich. Die Köpfe waren eine Masse von Früchten. Ich wandte mich von dem Brunnen ab, schaute nach oben. An dem Baum gab es keine Früchte oder, wenn es etwas gab, war es durch das dichte Grün der Blätter nicht zu sehen.

Ich setzte mich wieder hin. Dieses Mal sah ich auf dem Wasser die matte, von Schleierwolken bedeckte Sonne, die durch tausend schwingenden Wellen in tausend Stücken zerbrochen war. Sie warnte mich, ich könnte Zeuge eines sonderbaren Amuletts gewesen sein. Die tausend zerstückelten Sonnenstrahlen meinen Blick und verwirrten mich. Nach längerer Zeit gleitete mein erstaunter, starrer Blick von der Oberfläche in die Tiefe des Wassers. Ein riesiger Vogel trat fliegend aus dem tiefen Blau in Erscheinung. Plötzlich war dieser Vogel er selbst, mit seinem vollkommenen Wesen aus der Ferne, entfernt um ein Jahrhundert von diesem Ort und diesem Augenblick. Aus dieser Entfernung war er undeutlich, aber mit klaren Konturen in der Luft zu sehen. Dann kam ein langsamer Traum, in dem der riesige Vogel nach und nach, aber deutlich in Erscheinung trat. Langsam zeigten sich winzige Teile seines Körpers, beängstigend Groß. Es brauchte lange, bis sein königlicher Schädel mit einer roten Krone und gelben, grünen und violetten Federn eintraf. Danach sah man einen schönen Hals mit goldenen und silbernen Mähnen und den langen, sieben farbigen Zöpfen. Es sah aus wie ein Regenbogen, der sich über Stunden, vielleicht Tage den Horizont und die Tiefen meines hingegebenen Gefühls durchwanderte. Dann zeigte sich sein Rumpf mit den ausgebreiteten Flügeln und ich wußte, daß mein Leben nicht ausreichen würde, um in dieser Unendlichkeit seine Schwanzfedern, die zunächst die ganze Luft mit Farben und Lichtwellen erfüllten, zu sehen.

Ich dachte, dieser Vogel umkreist die abgeschlossenen Kammern, in denen er lange Jahre hindurch eingesperrt war, genauso lang, wie die Karawanserei besteht, während ich naiv sein Spiegelbild in der Tief der Quelle betrachte. Ich muß seinen tatsächlichen Flug in den Kammern, die von außen abgeschlossen und von innen ineinander übergehen, beobachten. In dieser Absicht gab ich mich auf einen Weg, der an dem Rand des Sumpfes vorbei, zum Ende des Gartens führte. Dort stand ich  vor einer abgeschlossenen Tür. Ich öffnete sie und sah vor mir ein Meer, dessen Wellen einem Segelboot, der mit einem Seil an dem Türschloss verbunden war, in Schwingung brachte. Ich schloss wieder die Tür, verzichtete auf eine Reise auf dem Meer, denn eine weit zurückliegende Erinnerung aus der oft erlebten Reisen durch die Wüste warnte mich. Ich versuchte eine andere Tür zu finden. Auf dem Rückweg tauchte ich unwillkürlich in die Quelle ein. Nun befand ich mich in einer dunklen, feuchten Kammer. Von hinter der Wand waren Geräusche von Vögeln und Wellen zu hören. Ich stieg die Treppen hinab. Die Feuchtigkeit nahm ständig zu, ebenso das Geschrei der Vögel. Erfüllt von Furcht lief ich unentschlossen durch einen schmalen, dunklen Gang, fiel auf einmal auf glitschige Bretter und fand mich zwischen Seilen in einem Segelboot. Nazanin wachte auf.

“Hast du nicht geschlafen?”.

“Nein.”

“Ich habe vom Meer geträumt.”

Als sie meine Verwunderung bemerkte, fragte sie:

“Warum bist du nicht in das Segelboot gestiegen?”

“Ich lasse dich nicht allein.”

Ich dachte nach: “Warum wolltest du, daß in dem Kalender eine Geschichte geschrieben wird, die nicht die unsrige war und deren Welt nicht uns gehörte? Ich dachte in einer anderen Sprache, um dich zu vergessen. Du nahmst deine Erinnerungen aus meinem Gedächtnis zurück, während wir den Planet überquerten, auf dem du, wie von Wahnsinn befallen, die Heimat unserer Tage verbannt hattest. Der Planet deiner Einsamkeit entfernte sich.

Du lachtest und du wußtest. Die Tür öffnete sich und ein Mann der der Besitzer der Kammer, des Kruges und des Brotes sein müßte, trat ein, von der Sonne verbrannt, ergraut, mit zerrissenen Kleidern. Er grüßte und wir grüßten zurück. Er setzte sich vertraut zu uns.

Nasanin sagte: Gönne uns das Brot, das du uns gibst.

Der Besitzer lachte und fragte: “Wann seid ihr angekommen?

“Rechtzeitig”

“Wo warst du”, fragte Nasanin.

“Hier in der Nähe.”

Ich fragte: “Kennt ihr euch?”

Nasanin gab keine Antwort. Es war immer so. Sie überhörte eine Frage, bis du in der Stille selbst auf die Antwort kamst. Ich kam aber nicht darauf und sie schelte mich bei einer anderen Gelegenheit, und sagte, ich hätte die Antwort herausfinden müssen. Ich erwiderte, wenn ich nicht weiß, was es ist und wo es ist, wie soll ich es dann finden? Sie lachte im Stillen und ich konnte ihr Lachen nicht begreifen. Vielleicht hatten gerade diese überhöhten Fragen und unausgesprochenen Antworten uns in Abhängigkeit von einander gebracht oder uns weiter voneinander entfernt.

Dieses Mal ist es aber anders. Eine Flamme lodert in mir, sie verbrennt meine Lieder, meine Geduld. Es ist besser, wenn ich meine Widerstandsfähigkeit für die Tage aufbewahrt, in denen wie heute eine Erinnerung die Tränen überdauert.

“Ist es nicht genug?”

“Es ist nicht genug.

Ich bereitete mich in dem Segelboot auf eine Reise vor, die mich überall hin führen könnte, nur nicht hierher. Ich ruderte durch die Stimmen der Vögel die über mir den Himmel bedeckten. In der Tiefe des Wassers schwamm eine große Schar schwarzer Fische, die dem Segelboot über sich vorbeiziehen ließ. Die Fische schwammen spielend unter dem silbernen Schein der Nachmittagssonne zwischen den lachenden Köpfen, die auf dem Wasser rollten. Der Schatten meines Schädels, schwamm, getrennt von mir, lachend auf dem Wasser. Ich faßte über meinen Hals. Es gab nichts, was die Hand berühren konnte. Je dunkler es wurde, desto schneller fuhr ich und das Meer warf mich mit einem Geschrei, das durch den Abendsturm entsteht, hin und her. Jetzt bin ich zu Hause angekommen, lese meine Reisenotizen, um jene Jahre und vor allem sie aus der Erinnerung zu tilgen. Aber ich merke, daß ich dazu nicht imstande bin. Wann und wo habe ich mich von ihr, oder sie sich von mir zu entfernen begonnen? Sie ist nicht hier und auch nicht in diesem Kalender. Vielleicht ist sie irgendwohin gegangen. Vielleicht ist sie verschwunden in dem Land, in dem sie stundenlang fröhlich über die kleinen Hügel hüpfte. Vielleicht ist sie in einer Wüste oder einem Meer damit beschäftigt, wieder einmal die Träume von diesem und jenem zu ordnen. Ihr braunes Foto, dessen schönen Farben die starke Sonne dieser Stadt mitgenommen hat, schaut mich an. Ich versuche, die Ereignisse, die nicht stattgefunden haben und sich von dem, was ich beschrieben habe, stark unterscheiden, in Erinnerung zu rufen, aber ich kann mich nicht an die Gespräche, Handlungen und die Tage erinnern, die mich beunruhigten und zum Schreiben veranlassten. Ich erreiche lediglich die Randerscheinungen dieser Erinnerungen.

Das rätselhafte Alphabet der Sätze bringt mich weiter. Dein Bild ist nun mit den natürlichen ursprünglichen Farben, frech und fröhlich aus dem Rahmen getreten und steht über meinem Kopf, genauso wie in jenen Zeiten als du hinter meinem Rücken standst, damit du alles, was ich im Hinterkopf habe, gut lesen konntest. Ich sehe die Richtung deines Blickes auf meine willenlose Zeilen, und merke, daß du alles lest, bevor ich es geschrieben habe.